Cover
Titel
Romantik im Spannungsfeld von Konfessionalisierung und Nationalisierung. Das Spätwerk Joseph von Eichendorffs (1837–1857)


Autor(en)
Essenberg, Nikolas van
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
668 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonathan Schilling, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Unter den deutschen „Dichterjuristen“ ist Joseph Freiherr von Eichendorff neben Johann Wolfgang von Goethe, Novalis, Heinrich Heine und Kurt Tucholsky einer der bekanntesten. Namentlich durch die Vertonungen von Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy erlangte er sogar weltweiten Ruhm und lyrische Erzeugnisse wie „Mondnacht“ und „Wünschelrute“ brachten ihm den Ruf ein, ein besonders „deutscher“ und besonders „romantischer“ Dichter zu sein. Zwei Faktoren stehen in Eichendorffs Biographie in einer nicht unerheblichen Spannung zueinander: Von 1820 bis 1844 war er Mitglied des preußischen Verwaltungsapparats, zuletzt als Regierungsrat – und er war Katholik. Es lässt sich an seinem Beispiel nicht nur zur Stellung von Katholiken im preußischen Staat und Beamtendienst im Allgemeinen forschen; Eichendorffs Fall ist vor allem auch deshalb so interessant, weil die literarische Romantik mit ihrer Katholizismus- und Mittelalterbezogenheit in verschiedenen liberalen Kreisen als unpreußisch, undeutsch und reaktionär galt.

Dieses Spannungsfeld zwischen preußischem Patriotismus, deutschem Nationalismus und katholischer Romantik, das sich an Eichendorffs Beispiel so anschaulich verdichten lässt, bildet den Ausgangspunkt der Münchner Dissertation von Nikolas van Essenberg. Obschon van Essenberg, der Germanistik und Latinistik studiert hat, auf dem Umschlag auch als „Historiker“ bezeichnet wird und sein Werk sowohl an Germanisten als auch Historiker adressiert ist, handelt es sich nicht eigentlich um eine geschichtswissenschaftliche Arbeit, sondern um eine literaturwissenschaftliche. Sie wird maßgeblich bestimmt von der Ablehnung von „werkimmanenten“ Literaturanalysen (S. 20, 26 u. ö.) und wendet sich gegen „das zählebige, autonomieästhetisch verbrämte Stereotyp vom rein subjektiven, weitgehend ahistorischen Gedankenkosmos des ‚absoluten Lyrikers‘“ (S. 351). Stattdessen pocht van Essenberg auf eine „konsequente Historisierung“ (S. 9), worunter er versteht, dass Eichendorffs Texte aus seiner Biographie und seiner Zeit heraus gedeutet werden müssen. Gegenstand der Analyse ist das Spätwerk Eichendorffs, das van Essenberg von 1837 (oder im engeren Sinn 1846) bis 1857 ansetzt.

Da verhältnismäßig wenige Briefe Eichendorffs erhalten sind, bleibt als Quelle für seine Anschauungen in erster Linie das Werk selbst sowie seine zeitgenössische Rezeption. Dem herausgehobenen Stellenwert Eichendorffs in der deutschen Literaturgeschichte entsprechend, wurde sein Leben und Werk bereits ziemlich umfassend untersucht. Das ganze Buch, besonders die differenzierte Einleitung (S. 13–48), zeugt von einer intensiven Beschäftigung, oder besser: Auseinandersetzung mit diesen Studien, denn van Essenberg befindet sich in einem erklärten Gegensatz zur „bisherigen Forschung“, der er eine verzerrte Sicht auf Eichendorff und die Romantik vorwirft. Aus den vielerlei Punkten, die er an den bestehenden Studien bemängelt, seien stellvertretend drei zentrale Aspekte genannt: Einmal sei das „Stereotyp des naiv-frommen, politischen unbedarften Naturdichters“ (S. 20) über Jahrzehnte gepflegt worden, sodann sei der markante Katholizismus im Spätwerk auf frühere Schaffensphasen rückprojiziert worden (S. 258), zuletzt sei aus diesem katholischen Standpunkt eine „grundsätzliche Distanz Eichendorffs zum ‚übersteigerten Nationalismus‘“ abgeleitet worden (S. 342), die sich in dieser simplifizierenden Deutung nicht halten lässt.

Sieht man von zwei kurzen Exkursen am Schluss der Untersuchung ab, in denen eine Einteilung des Werks in Schaffensphasen vorgenommen und Eichendorffs Beziehungen zum Verwaltungspolitiker Theodor von Schön beschrieben werden, unterteilt sich die Untersuchung in zwei Teile: Teil A (S. 49–207) ist überschrieben: „Zwischen Preußen und Deutschland – Grundlagen“. In ihm geht es vorrangig um die geschichtlichen Voraussetzungen und biographischen Hintergründe von Eichendorffs Wirken. Ein erstes Großkapitel beleuchtet die Wiederaufnahme des Kölner Dombaus, jenes Herzensprojekt Friedrich Wilhelms IV., an dem Eichendorff mit einer Werbeschrift beteiligt war. Damals, am Anfang der Vierzigerjahre, war Eichendorffs Affinität zum Nationalgedanken noch unübersehbar und der ehemalige Lützowsche Jäger sah Preußen in besonderer Verantwortung und besonderem Führungsrecht. Ein zweites Kapitel gibt Einblicke in die frühe und mittlere Phase von Eichendorffs Beamtenlaufbahn. Auch hier offenbart sich Eichendorffs Sympathie dem preußischen Staat gegenüber. 1832 war er mit Leopold von Ranke als Redakteur der regierungsfreundlichen „Historisch-Politischen Blätter“ vorgesehen, erhielt aber den Posten nicht, weil sein verfassungskritischer Eröffnungsbeitrag die Staatsnähe der Zeitschrift zu plump enthüllt hätte. Das dritte Großkapitel beschäftigt sich mit Eichendorffs letzten Beamtenjahren. Hier wird unter anderem seine Haltung zum Deutschkatholizismus und sein publizistischer Beitrag zur Wiedererrichtung der Marienburg behandelt. Anhand von diesem Werk weist van Essenberg das gespaltene Verhältnis zu Friedrich Wilhelm IV. nach, auf das letztlich auch die vorzeitige Pensionierung Eichendorffs 1844 zurückzuführen ist. Dem Kronprinzen hatte Eichendorff noch mehrere Werke gewidmet, doch trotz der Schnittmengen zwischen dem adligen katholischen Romantiker und dem katholizismusaffinen Romantikerkönig kippte die Sympathie schon bald nach der Thronbesteigung im Jahr 1840.

Einige Gründe für diesen Bruch werden im Teil B (S. 209–624) entfaltet, der sich dem Spätwerk in Einzelanalysen widmet. In fünf Großkapiteln geht es hier um die Grundthemen des Spätwerks, die Revolution von 1848, die literarhistorischen Schriften, die Versepen und die letzten Lebensjahre Eichendorffs. Nach der Pensionierung 1844 stellte sich Eichendorff ganz in den Dienst der katholischen Bewegung, was durch Kontakte nach München und Wien, insbesondere auch zu Joseph Görres, verstärkt und verfestigt wurde. Spätestens um 1848 wurde der Katholizismus für Eichendorff zur obersten Leitlinie. Eine Schlüsselrolle im Spätwerk nehmen die literaturgeschichtlichen Schriften des Dichters ein, die bewusst als katholisches Gegengewicht zur kulturprotestantischen, nationalliberalen Literaturgeschichte von Georg Gottfried Gervinus konzipiert waren. Hier konnte Eichendorff seine Weltsicht expliziter als in seiner Erzählprosa und Lyrik darlegen und historisch untermauern. So erklärte er den Katholizismus zur eigentlichen deutschen Religion; schuld an der fehlenden nationalen Einigung Deutschlands war für ihn die Reformation (S. 380). Obwohl er „immer um Vermittlung, Ausgleich, Versöhnung bemüht“ gewesen sein soll (S. 476), konnte Eichendorff in seiner Kritik am Protestantismus und an Friedrich Wilhelm IV. auch harsch sein. Entlang der Konfession unterschied er „eine wahre und eine falsche Romantik“ (S. 462). Zur letzteren gehörte für ihn insbesondere der König, dessen Beurteilung als „Romantiker auf dem Thron“ Eichendorff von Friedrich Theodor Vischer übernehmen konnte, ohne damit seine eigene Rolle als Romantiker infrage zu stellen (S. 476) – Eichendorff gehörte eben zur „wahren“ Romantik, Friedrich Wilhelm IV. zur „falschen“ protestantischen. Kritisch zu bemerken ist, dass van Essenberg in der Rede vom „pietistisch-quietistischen“ König (S. 211 u. ö.) pejorative Quellenbegriffe übernimmt, ohne sie zu problematisieren. Die Analyse der beiden letzten Werke Eichendorffs – die autobiographischen Aufzeichnungen „Erlebtes“ und das Fragment „Die heilige Hedwig“ – fördert zutage, wie Eichendorff zum Ende seines Lebens seinen Standpunkt von der „wahren“ katholischen Romantik noch einmal schärfte und rückblickend zusammenfasste.

Nikolas van Essenberg hat zweifellos ein originelles Thema mit ertragversprechenden Fragestellungen gewählt. Dass das Ergebnis nicht recht befriedigen kann, liegt vor allem an der Art, wie die Inhalte dargeboten sind. Schon der schwer zugängliche Schreibstil mit langen Bandwurm- und Schachtelsätzen (nicht selten über acht und mehr Zeilen) beeinträchtigt die Lesbarkeit enorm. Die Dissertation wurde für den Druck „nicht verändert“ (S. 10) und das erweist sich als großes Versäumnis. Verhängnisvoll ist insbesondere die undurchsichtige Gliederung: Die Zweiteilung in Grundlagen und Einzelanalysen wäre an sich plausibel, wenn die beiden Teile trennscharf voneinander unterschieden und nachvollziehbar untergliedert wären. Unter anderem in dieser undurchsichtigen Gliederung liegt die mangelnde Kohärenz des Buches begründet. Durch mehr als 700 Querverweise auf andere Kapitel, die allerdings nur den Eindruck des Diffusen verstärken, soll die fehlende inhaltliche Geschlossenheit ausgeglichen werden, die besser durch eine systematischere Gliederung erzielt worden wäre. Zahlreiche, auch ganz zentrale Themen werden über das ganze Buch verteilt immer wieder angeschnitten, statt dass sie an einer Stelle gesammelt verhandelt würden. Redundanzen können da nicht ausbleiben. Zwar warnt van Essenberg bereits in der Einleitung, dass er solche „bewusst im Dienst der Leserfreundlichkeit“ eingebaut habe (S. 48), doch das erweist sich als Bärendienst. Die Wiederholungen sind so zahlreich, dass sie immer mehr zum Ärgernis werden, etwa wenn eine Reihe von Zitaten, die auf S. 247 gebracht werden, nur sieben Seiten später nochmals vorgestellt werden, als lese man sie zum ersten Mal. Dass Eichendorff vor den Berliner Barrikadenkämpfen 1848 nach Dresden auswich, wird fünfmal in fast wortgleichen Sätzen ausgebreitet (S. 233, 256, 294, 315, 322). Das Buch hätte sehr viel gewonnen, wäre es um nicht weniger als die Hälfte gekürzt worden. Die übermäßige Weitschweifigkeit geht nicht nur zulasten der Lesbarkeit, sondern mindert auch die Klarheit der Argumentation erheblich. Die Thesen gehen in der ausufernden Detailfülle schlicht unter und müssen oft zwischen den Zeilen gesucht werden. Statt mehrerer Exkurse und Codas wäre daher eine Zusammenfassung nach jedem Kapitel, wenigstens aber ein Resümee der Untersuchungsergebnisse am Ende des Buches nötig gewesen.

Nikolas van Essenberg hat für seine Studie die Eichendorff-Gesamtausgabe aus neuer Perspektive gelesen und für seine gründliche Auswertung eine enorme Fülle an einschlägigen Zitaten zusammengetragen. Sein Buch zeigt, dass es sich lohnt, den konfessionellen Gegensatz innerhalb der deutschen Romantik weiter in den Blick zu nehmen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension